Montag, 27. Juni 2016

Jeder Tag ist ein kleines Leben für sich

Ein jeder Tag ist wie ein kleines Jahr,
und jede Stunde Bergeinsamkeit ist wie ein Hauch der Ewigkeit.
Fernöstliche Weisheit

Seit ich mich vor zehn Minuten in den Downhill vom Osterfelder Kopf unterhalb der Alpspitzbahn geworfen habe, prasselt unaufhörlich Regen auf mich ein. Die Wege, die ohnehin schon vom Regen der vergangenen Tage aufgeweicht sind, werden nun noch rutschiger und die einsetzende Dunkelheit erschwert es ungemein, bergab zu laufen. Nie war ich so froh über meine Stirnlampe, die ich schon im Aufstieg in weiser Voraussicht an einer windgeschützten Stelle aus dem Rucksack geholt habe – um dann am höchsten Punkt doch anhalten zu müssen, um die Regenjacke rauszuholen. Etliche Läufer haben keine Stirnlampe auf und sind zu Wanderern mutiert, tasten sich langsam den Weg hinab und äußern dann auch noch Unverständnis, wenn ich mit einem mir vorauseilenden „Servus“ oder „Danke“ um etwas Platz auf dem schmalen Pfad bitte. Ich stoppe kurz und verstaue meine beschlagene Brille in der Brusttasche meiner Jacke, wohlwissend, dass ich auf der Entfernung zwischen Augen und Boden scharf genug sehen kann. Vor dem Hupfleitenjoch hält sich ein letztes Schneefeld hartnäckig im steilen Nordhang, trotzt Regen und Sonne und lässt mich kurz abstoppen. Am Ende des kurzen Gegenanstiegs wartet Kathi, die auf der kürzeren Strecke von Leutasch unterwegs ist, und in freudiger Erwartung, sie kurz drücken zu können, stürme ich die letzten positiven Höhenmeter des heutigen Tages hinauf. Wir unterhalten uns kurz, ich wünsche ihr alles Gute für die letzten Kilometer und gehe wieder in den Laufschritt über. Wo der Weg kein Gefälle aufweist, ist er eine einzige Pfütze. Es ist sinnlos auszuweichen, denn das Wasser ist überall. Am letzten Verpflegungspunkt will ich nur ganz kurz anhalten, um etwas Cola zu trinken. Zucker und Koffein sind die ideale Mischung, um auf dem letzten Downhill konzentriert bleiben zu können. Dann kommt mir Alex am VP entgegen – er muss noch die Schleife über den Osterfelder Kopf drehen, sieht aber gut aus und ich weiß, dass auch er es ins Ziel schafft – und wir unterhalten uns kurz. Letztendlich werden mich diese drei Stopps (Regenjacke, Kathi, Alex) eine Zeit von unter 15h kosten, aber das ist mir nach diesem langen Tag egal.




Wie das Wasser bahnen Tobias und ich uns den Weg nach unten, überholen erschöpfte Läufer und surfen diesen Singletrail aus Wasser, Erde und Steinen bei Dunkelheit hinab, als ob wir flach in der Helligkeit des Tages auf einer geteerten Straße liefen. Auf Tobias bin ich zu Beginn des letzten Abstiegs aufgelaufen. Er ist ebenfalls auf der Langdistanz des ZUT unterwegs – hat also bereits 96 Kilometer und 5400 positive Höhenmeter in den Beinen und nur noch vier Kilometer vor sich – und wollte mich bereits in einer Kehre an sich vorbeilassen, doch ich bleibe hinter ihm, denn wir sind in etwa gleich schnell und mit zwei Stirnlampen wird der Weg besser ausgeleuchtet. Unabgesprochen stellt sich bei uns eine kleine Arbeitsteilung ein: Tobias hat den unmittelbar vor uns liegenden Abschnitt im Blick und warnt vor Gefahrenstellen, ich mache vor uns laufende, langsamere Läufer auf uns aufmerksam, in dem ich entweder die Stöcke gegeneinander schlage oder etwas lauter rufe – Arbeitsteilung at its best! Drei Kilometer noch zum Ziel. Der Blick geht auf die Uhr, die eine Zeit von 14:41h anzeigt. Eigentlich kein Problem, 19 Minuten für die verbleibende Strecke viel Zeit, doch ich weiß, dass noch zwei rutschige Wiesen und mindestens ein Gatter vor uns liegen. Als uns der Wald in Hammersbach ausspuckt, wird der Schritt länger und wir nehmen noch mehr Tempo auf. Wir fliegen an anderen Läufern vorbei, pushen uns Gegenseitigkeit, schneiden Kurven und bewerten die StVO einvernehmlich als Regularium, das einzig und allein dazu dient, die schnellstmögliche Fortbewegung von Punkt A nach Punkt B zu erschweren. Ich habe das Gefühl, dass Tobias abfällt, winke ihn mit dem Stock wieder ran. Vorletzte Kurve vor dem Ziel, Zeitmessung, 140m to go. Wahrscheinlich werden unsere Namen jetzt angesagt, schießt es mir in den Kopf. Letzte Kurve, helles Licht, der Tag geht mir durch den Kopf, abklatschen mit Tobias, Zielbogen. Mone kommt mir entgegen, Freddy steht im Auslauf des Ziels und beide nehmen mich in den Arm. Wenn jeder Tag wie ein kleines Leben ist und Sterbenden kurz vor dem Tod das komplette Leben vor dem inneren Auge ablaufen soll, ist das hier die Zeit nach dem Tod – und sie könnte schöner nicht sein.


Der Leser möge mir diese pathetischen Worte verzeihen, aber ich bin noch immer – mehr als 36 Stunden noch dem Zieleinlauf – von diesem Ereignis berauscht. Das Ereignis zog sich über 101,6 Kilometer, 5400 positive Höhenmeter und 15:01 Stunden durch das deutsch-österreichische Grenzgebiet und ist, besser bekannt als Zugspitz Ultra Trail (ZUT), die größte Veranstaltung ihrer Art in Deutschland. Mich hat dieser Lauf schon immer fasziniert, weil er ein komplettes Bergmassiv umrundet, weil er den Läufer in einem touristisch stark erschlossenen Gebiet an Orte bringt, die normale Touristen bei ihrem Aufenthalt eher nicht aufsuchen und weil die Leutasch einfach wunderschön ist. Deshalb war ich auch Herr meiner Sinne, als ich das Anmeldeformular ausgefüllt habe und mir darüber im Klaren, welche Strapazen der Lauf und das Training dafür bedeutet. Es ist daher umso schöner, wenn dieses Gefühl durch den Lauf bestätigt wurde und die Faszination noch immer besteht.
Am Donnerstag reise ich zusammen mit Lara von Göttingen nach München an und wir übernachten bei Mone. Am Freitag überprüfe ich dreimal die Ausrüstung, während Lara das Spektakel grinsend beäugt – irgendwann sehe ich ein, dass ich alles dabei habe und wirklich nichts in Göttingen vergessen habe. Da Pastapartys am Abend vor dem Lauf in der Regel zu einer Aufnahme leerer Kalorien und schlechtem Schlaf führen, essen wir mittags 500g Vollkornnudeln, grünes Pesto und frischen Salat aus dem Garten. Am Nachmittag fahren wir nach Grainau, treffen dort Göttinger und Nicht-Göttinger und harren in der Sonne vor dem Haus der Bergwacht bis zum Beginn der Pastaparty aus. Ich bin tierisch aufgeregt, kippe zwei alkfreie Weißbier rein und würde mich am liebsten sofort ins Bett legen, um dem ganzen Trubel zu entfliehen. Das folgende Briefing ist etwas zäh und größtenteils uninformativ, irgendwann dann aber auch zu Ende. Mit Alex, Freddy, Kathi und Lara geht es zurück nach Partenkirchen zur Unterkunft im Sport-Quartier an der Skispungschanze. Die Unterkunft ist super und absolut empfehlenswert. Dann noch einen kurzen Spaziergang und um 21:30 liege ich im Bett, rolle mich links und rechts in den Schlaf und wache um fünf Uhr auf. Es gab schon bessere Nächte vor einem Wettkampf, aber auch schlechtere.

Frühstück (eingeweichte Haferflocken mit etwas Obst, 1,5 l Wasser), Toilette, Drop-Bag-Abgabe, Ausrüstungskontrolle – und schon stehe ich mit Alex im Startblock. Mit Trommelwirble und bei Kaiserwetter werden wir auf die Strecke geschickt und gehen den Lauf betont langsam an. Seit 22 Jahren schaue ich Tour de France, seit 22 Jahren weiß ich, das Bergetappen nicht am ersten Berg entschieden, geschweige denn der Toursieg in der ersten Woche errungen wird. Nach 1:03h sind wir am VP 1, was eher zu schnell, als zu langsam ist. Danach der erste längere Anstieg, an dem wir gemeinsam einige Leute überholen, ohne zu pushen. Meine Beine sind gut, bergab nehmen wir trotzdem raus. Jetzt die ersten ca. 500 hm am Stück. Alex fällt etwas ab. Ich wechsle zwischen Gehen und Laufen, um die Muskulatur unterschiedlich zu beanspruchen. Am VP 2 nach 2:23 h bin ich kurz vor Alex. Wir unterhalten uns kurz, ich mache mich aber dann alleine weiter, denn zu lange Pausen setzen mir eher zu, als dass ich mich dabei erhole. Dosiert weiter zu VP 3, wo ich nach 3:25h als 37. ankomme. Die Strecke wird hier umgeleitet und es geht zunächst sehr steil eine Forststraße hoch, bevor ein noch steilerer Hang (Skipiste?) folgt. Bergauf hole ich nur ein, wechsle zwischen langen und kurzen Schritten, halte mit den Stöcken den Oberkörper oben, um frei atmen zu können. Ich bin jetzt im Anstieg zu den höchsten Punkten der Strecke, weiß, dass Dennis irgendwo im Nebel auf mich wartet. Kurz vor dem Gatterl höre ich eine vertraute Stimme und Maren springt aus einem Haufen von wartenden Bergwacht’lern hervor. Ich frue mich, sie hier zu sehen, nehme sie kurz in den Arm und laufe weiter Richtung Gatterl. Es ist verdammt zugig hier oben und ich ziehe mein Halstuch über den Hinterkopf. Damit sehe ich aus wie eine Babuschka, aber beim Laufen muss Equipment nicht nur gut aussehen, sondern auch nützlich sein. Wie erhofft, taucht Dennis aus dem Nebel am Feldernjöchl auf und schießt ein Foto von mir. Top 30 bin ich nach seiner Auskunft. Runter zum Steinernen Hüttel (es laufen einige an mir vorbei), rauf zum nächsten Joch (ich schließe entspannt auf) und länger bergab zum nächsten VP an der Hämmermoosalm (5:52h, Platz 35). 



VP bedeutet immer: 1. Kurz vor dem VP Müll aus der Tasche der Hose holen und Faltbecher ausklappen. 2. Müll wegwerfen. 3. Faltbecher mit Trinken und Magen mit Essen füllen. 4. Flaschen auffüllen. 5. Nochmals Essen nehmen und im Gehen nach dem VP weiteressen. Es sind noch 600hm hinauf zum Scharnitzjoch, bevor es einen langen Downhill zum nächsten VP gibt. Die Strecke zieht sich zunächst jedoch leicht auf und ab im Wald entlang, bevor der Anstieg beginnt. Hier hänge ich mich an einen Läufer und wir stapfen durch den Matsch zum Joch. Oben hält er an, um sich wärmer anzuziehen, ich ziehe nur die Ärmel des Longsleeves runter, das Halstuch hoch und laufe in den Downhill. Insbesondere der letzte Abschnitt des Downhills ist super: Kein Matsch, kleiner Pfad, Serpentinen ohne Ende und griffiger Boden. Ich freue mich richtig und pfeife vor mich hin. Ich weiß an dieser Stelle, dass ich ins Ziel kommen werde – wenn nicht etwas Unvorhergesehenes passiert. Auf breiteren Wegen dann zum VP 5 am Hubertushof (7:59h, 27.). Mehr als die Hälfte der Kilometer sind absolviert, mehr als zwei Drittel der Höhenmeter zurückgelegt. Ich hole mir meinen Dopbag, packe frische Gels in den Rucksacke und trinke reichlich Brühe. Susanne begrüßt mich und ich freue mich, norddeutschen Slang zu hören. Kurzer Medi-Check, weil irgendwas in die Fußsohle sticht, aber alles ok, kein Stachel o. ä. Ich lasse mir ca. 15 Minuten Zeit, bevor ich weiterlaufe. Es geht im Tal an der Leutasch entlang und der Temperaturunterschied von ca. 18 °C (2000m 5°C, 1000m 22°C) macht sich bei mir bemerkbar. Bis zum nächsten VP bei km 63 schleppe ich mich, doch dann wird es schlagartig besser.

Es ist nur ein kleiner VP ohne Zeitmessung. Die Beine fühlen sich gerade bescheiden an, da fällt mein Blick auf eine Tüte mit kleinen „Energy-Balls“: Zucker und Koffein – was für eine Mischung. Bis dahin noch keine Cola getrunken, ziehe ich mir zwei „Balls“ rein und keine fünf Minuten sind die Beine wieder da (ich weiß nicht, ob das überhaupt so schnell Wirkung entfalten kann). Jedenfalls mache ich mich alleine weiter und fliege förmlich zur nächsten Station am Ferchensee (9:46h, 68 km, 36.). Das ich einige Plätze verloren habe, lag an meiner langen Pause am VP 5. Am Ferchensee fülle ich alle auf, was aufzufüllen geht, denn es folgen jetzt 14 km mit einigen Höhenmetern und die Sonne brennt hier im Tal doch sehr heftig. Hier gibt’s leider keine „Balls“, aber zwei habe ich mir noch aufgespart. Auf einer Forststraße – hier kann man richtig laufen – Richtung Ellmau unterhalte ich mich kurz mit einem Belgier, der mich über die aktuellen Fußballergebnisse informiert. Er läuft einen kürzeren Lauf, mein Tempo ist ihm aber zu schnell, weshalb wir uns gegenseitig viel Glück wünschen und dann wieder getrennter Wege gehen. Ich singe ein bisschen (Frank Turner – Rivers), denn wie ein Fluss fließe ich dahin und laufe auf Lukasz auf, der mich noch nach dem Hubertushof überholt hat. Er kommt aus Polen und es ist sein erster Ultrawettkampf. Er weiß nicht genau, was ihn noch erwartet, er hat aber festgestellt, dass man einfach nur weiter machen muss („keep going“) und dann schon irgendwie ins Ziel kommt. Bergab läuft er mir immer davon, bergauf laufe ich entspannt auf ihn auf. Ich möchte ihm zu rufen, dass er seine Beine doch bergab regenerieren soll, aber die Erfahrung muss jeder selber machen. Von Ellmau geht es bergauf den Höhenzug des Eckbauers, der Weg zieht sich immer rauf und runter, und wenn ich nicht so gute Beine hätte, würde ich hier kotzen. Ich weiß, dass Mone am nächsten VP an der Partnachalm steht und Cola dabei hat – auch das pusht mich. Der Abstieg runter zur Partnach ist steil und ich stoße hier auf jemanden, der mich im Downhill vom höchsten Punkt überholt hat. Nach der Partnachquerung wieder steil hoch. Das Schild „VP 500m“ kann motivierend sein, jedoch nicht, wenn auf den 500m 120 Höhenmeter gemacht werden müssen. Egal, nicht denken, hoch! Ich bin froh, Mone zu sehen (11:44h, 28.). Sie nimmt mir etwas Arbeit ab und erzählt mir ein wenig von ihrem Tag, bringt mich auf andere Gedanken. Leider keine „Balls“ am VP, dann aber Erinnerung, dass ich noch welche in der Hosentasche habe. Freudestrahlend wie ein Kind mit dem ersten Eis sitze ich also vor der Partnachalm und ziehe mir drei weitere „Balls“ rein. Jetzt aber weiter, es wird kalt. Mone kommt noch etwas mit, bis ich mich bergab wieder laufen in Bewegung setze. Sie kann sogar noch Alex und andere Läufer am VP mit Cola versorgen, da die Cola der Crew am Stand ausgegangen ist. Das erfahre ich erst hinter her und es muss ziemlich deprimierend sein, wenn man sich lange auf Cola gefreut hat und dann nach 82 km auf Brühe verwiesen wird. 

Hinter der Partnachalm geht es leicht auf und ab und ich versuche, so lange wie möglich zu laufen. 1000 hm warten jetzt noch auf mich, ich bin so fokussiert und weiß, dass es zwar anstrengend, aber keine Qual wird. Auf der Strecke überhole ich nur noch, die Kehren zum Kreuzeck erscheinen endlos, aber dann bin ich oben und treffen Freddy. Kurz quatschen und dann weiter. Kurzer Stopp, um die Stirnlampe aufzusetzen und dann stehe ich schon vor dem letzten Downhill. Ich bin dermaßen wach und die Beine noch flink – wie auf Schienen presche ich herab!

Epilog



Wieder prasselt der Regen. Diesmal auf das Dach des Wintergartens in München. Das Geräusch kommt durch die offene Tür und weckt mich auf. 4 ½ Stunden Schlaf nach dieser Anstrengung und ich bin trotzdem hellwach. An Schlaf nicht mehr zu denken, also stehe ich auf und lese mir Facebook durch. Den ganzen Lauf re-live, kommentiert von vielen lieben Freunden. Ich kann noch nicht ganz begreifen, wie ich 25. in der Männerklasse, 18. in meiner Kategorie werden konnte. Ich bin froh, dass alle, die ich kenne, gesund angekommen sind und niemand sich verletzt hat. Die Bedingungen waren am Ende sehr hart. Immerhin haben die langsameren Läufer den Regen, den ich erst in den letzten 90 Minuten hatte, schon auf der Südseite des Wettersteins, also ab ca. km 50 gehabt. 
Es regnet den ganzen Tag, erst am späten Nachmittag lichtet sich die Wolkendecke und Mone und ich gehen spazieren. Das ist gut für die Beine. Und Bier gut für die Erholung. Prost!

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hallo,
ich finde es toll, was du geleistet hast. Ich habe schon gehört, dass die Region toll für den Sport sein soll. Ich selbst bin nicht so sportlich, überlege aber, mit meiner Familie Wanderurlaub in der Region zu machen. Ich habe gehört, dass das Hotel Hubertushof Leutasch ein guter Ausgangspunkt für Wanderungen ist. Kannst du mir dazu was sagen? Es steht so zumindest auf der Website. Du hattest ja geschrieben, dass ihr dort einen Haltepunkt hattet.

Viele Grüße,
Bianca